Leseprobe

Urbane TräumeTeil II der Trilogie Vollrausch

Kapitel I

Ein Hund konnte rechnen. Nicht nur Knochen ausgraben und Stöckchen vom Boden aufheben. Das war genau das Richtige für die Werbepause. Auf einem anderen Kanal lief eine Gerichtsshow. Er wollte das Urteil abwarten, geständiger Täter, machte auf Wahnsinnig, war 20 Jahre hinter dem Mörder seiner Jugendliebe her, die man im Wald verscharrt hatte, und dann hatte er sich gerächt, hatte den Peiniger getötet und eigenhändig dessen Grab ausgehoben.
    Aber Hansi war ein Hund, der rechnen konnte. Stellte ihm das Herrchen eine einfache Aufgabe, bellte er das Ergebnis. Wie das mit den Kommazahlen funktionierte, hatte er nicht mitbekommen. Am Erstaunlichsten war, dass Hansi seit der Entdeckung seines Talentes den Kindern seiner Familie bei den Mathehausaufgaben half. Ob es am Futter lag?
    Schnell zurück. Das Urteil: Acht Jahre – lag unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft, der Täter war geständig – das funktionierte immer –, hatte Reue gezeigt, etwas wahnsinnig, aber definitiv zurechnungsfähig, und geständig, ja, ja. Außerdem war er doch gestraft genug. Ein bisschen irre, der Gute. Aber klar, nach so vielen Jahren, die er wie besessen hinter ihm hergejagt hatte.
    Sollte wieder auf Hansi schalten, dachte er sich. Erst noch abwarten, ob noch was nachkäme. Aber Hansi? Egal, bekam nun die Witwe des Opfers eine Strafe wegen Falschaussage? Nix, dieses Mal nicht. Schade, die hätte es verdient. Was machte Hansi? – Leider den Rest verpasst.
    Donald blickte nach draußen, wieder ein heißer Tag. Der Feinstaub unterwegs und das Ozon am oberen Limit. Wenn er vor dem Fernseher saß, schwitzten seine Füße, wurden so nass, dass sich mittlerweile ein blasser Fleck auf dem Holzparkett vor seinem Sofa gebildet hatte. „Der geht mit Putzen nicht raus!“, meinte seine Mutter beim letzten Mal. Daher hatte er beschlossen, sich ans andere Ende des Sofas zu setzen, um den Boden gleichmäßig abzunutzen. Aber egal, war schließlich seine Wohnung, er hatte sie geerbt. Konnte damit machen, was er wollte.
    Heute war Montag. Und Hansi konnte rechnen. Seine Katze sah ihn dösig an. Ob die auch rechnen konnte, fragte er sich. Sie zwinkerte mit ihren großen, grünen Augen, leckte etwas an seinem Handrücken und ringelte sich wieder zusammen.
    So eine süße, dachte Donald und drückte seine Nase auf ihren Bauch.
    Hansi war also schon gelaufen. Dann eben noch eine Gerichtsshow, die nervige Richterin. „... und mit der Angeklagten weder verwandt, noch verschwägert?“, kam es aus dem Lautsprecher.
    Donald hatte in einem Artikel gelesen, dass man in Amerika die Geschworenen über die normalen Möglichkeiten der Beweisführung aufklärte, da die Leute dank der vielen Gerichtsshows und Kriminalserien ein völlig falsches Bild von der Spurensicherung hatten. In den wenigsten Fällen wurden aufwändige Tests gemacht oder irgendwelche Fasern gefunden, die den Täter entlarvten. Meistens führten nur Indizien zum Urteil. Solche Beweisorgien wie in den Serien würden einen Fall in der Wirklichkeit eher als inszeniert erscheinen lassen. Was es nicht alles gab. Im Internet hatte er neulich gelesen, dass das Amtsgericht neue Schöffen suchte und man könnte sich bewerben. Fast war er versucht gewesen, sich zu melden. Tat es aber dann doch nicht. Am Ende war es dann nur Arbeit und die meisten Fälle einfach uninteressant.
    Ja, das Leben war in Wirklichkeit einfach viel langweiliger und drüber konnten nicht einmal Wunderhunde hinwegtäuschen. Er schaltete weiter.
    Eine Reportage: Mutter entführte eigenes Kind – auch nicht besser –, weil Behörden ihr es weggenommen hatten. Grund: Sie behauptet, das Kind wäre krank, das Amt hingegen, sie hätte ein Münchhausenstellvertreterkomplex und gefährdete das Leben ihres Sohnes. Sie wurde in die Geschlossene eingeliefert, konnte aber entfliehen, war nun mit ihrem Kind untergetaucht und wendete sich an die Fernsehredaktion. Donald fragte sich, wie sie ihr Kind gefunden hatte. Das war doch auch irgendwo untergebracht. Vielleicht hatte es ein Handy und sie hat es einfach angerufen.
    Klasse, dachte sich Donald. Als ob man einfach so in eine Geschlossene eingeliefert werden konnte. Irgendjemand behauptete etwas und schon war man weggesperrt. Ohne Gutachten, ohne gerichtliches Verfahren – einfach so. Obwohl, war da nicht einmal so ein Fall gewesen, der für Aufsehen sorgte? Eine Frau hatte behauptet, ihr Mann hätte sie geschlagen und dann …Vielleicht sollte er einfach behaupten, sein Chef schlage ihn, mal sehen, was dann geschehe. Vielleicht käme dieser dann auch in die Klapse. Und außerdem konnte man nicht einfach so aus einer Psychiatrie hinaus spazieren – zum Glück, dachte er sich, er kannte da so jemanden. Was es nicht alles gab, rechnende Hunde, kranke Ämter, und Schweißflecken auf dem Parkett. Musste man bei Gelegenheit abschleifen. Er kannte einen Schreiner, der hieß Hansi. Vielleicht machte er das auch schwarz.
    Sein Schreiner-Hansi konnte rechnen, davon ging er aus, und die Wände weißeln. Morgen kam Mutter zum Putzen.
    Donald wusste nicht, was er in seinem Urlaub anfangen sollte. Das war wie immer. Erst sehnte man sich danach, und dann war es nur langweilig. Wie seine Playmobil Ritterburg, als er noch ein Kind war. Die hatte im Katalog viel spannender ausgesehen. Genau wie das Wetter. Sah durch das Fenster viel schöner aus, als es draußen in Wirklichkeit war. Es war zu heiß, viel zu heiß. Sonnenbrandwetter, Abgase, Feinstaub, Smog, Ozon. Was es heutzutage nicht alles gab, dachte er sich. Früher ging man nach der Schule raus und kam erst heim, wenn die Laternen angingen. Früher … er wurde alt. Wenn er schon mit „früher“ kam, war es nicht mehr weit bis zur Rente, Gott sei Dank.
    „Früher warst du so ein ordentlicher Kerl. Du warst ein aufgewecktes Bürschchen“, hatte einmal seine Mutter gesagt. „Jetzt hängst du nur noch in deiner Bude rum und schaust Pornos.“
    „Und wenn schon, was geht es dich an“, hatte er geantwortet. Offenbar hatte sie unter dem Bett gewischt und in seiner Filmkiste gestöbert.
    Dann hatten sie sich gestritten. Seine Mutter zog auf einmal über Ursel her und er über ihren Putzwahn. Was seine Freundin mit der ganzen Sache zu tun hatte, war ihm schleierhaft.
    Schließlich war sie beleidigt abgezogen. Irgendwie hatte er ein schlechtes Gewissen, aber warum war sie so beharrlich? Sie kam trotzdem jeden Dienstag vorbei. Sogar nach diesem Streit.
    Früher musste ich nicht arbeiten, jeden Tag aufstehen und langweilige Sachen machen, dachte er sich. Früher hatte ich kein Urlaub, sondern Ferien, früher gab‘s noch nicht mal Farbfernsehen.
    Er schaltete weiter. Die Richterin und diese Oma auf der Anklagebank waren zu langweilig. Sie war schuldig. Das war abzusehen.
    Auf einem anderen Kanal: Noch einmal Hansi! Sein Tag war gerettet. Ein Hund und seine unglaubliche Geschichte kurz vor der Primetime.
    „Hansi, wie viel ist zwei plus zwei?“
    Hansi bellte vier Mal.
    Was würde passieren, wenn man ihn fragte, wie viel zehn mal zehn ist? Würde Hansi sich heiser bellen? Oder zehn mal zehn mal zehn?
    Hansi konnte nur bis zweiundvierzig zählen. Das war weit genug. Aber dafür fast alle Rechenarten. Sogar Quadratwurzeln. „Hansi, wie viel ist die Quadratwurzel aus sechzehn?“
    Hansi bellte viermal.
    „Wie viel ist sechs minus drei plus fünf?“
    Hansi bellte viermal, dann sah man ihn aus einer anderen Perspektive noch einmal viermal bellen.
    „Ist es wahr!“, stöhnte Donald leise. „Das Einzige, was der Köter kann, ist auf Kommando viermal bellen!“
    Er streichelte seine Katze. Die bellte wenigstens nicht. Und im Gegensatz zu Hansi konnte seine Katze – alle Katzen – bis fünf zählen. Das hatten Studien ergeben. Katzen besaßen eine abstrakte Zahlenvorstellung. Die mussten nicht ins Rampenlicht.
    Nun kam die Sache mit den Hausaufgaben. Der Sohn der Familie las eine Aufgabe aus dem Buch vor.
    Hansi bellte viermal.
    Ganz schön schwierig für einen Hund, der nur bis zweiundvierzig zählte und sich auf Rechenaufgaben spezialisiert hatte, deren Ergebnis Vier ergaben. Vielleicht sollte man das Mathebuch umschreiben, sodass jede Aufgabe vier ergab. Vielleicht sollte man alle Schulbücher dahingehend abändern. Dann hätte Hansi bald das Abitur und man könnte noch so einen reißenden Bericht machen.
    Donald schaltete ab und ging auf die Toilette. Das Telefon klingelte und er war mitten im Geschäft. Natürlich hatte er sein Handy nicht dabei – es war in der Ladestation. Vielleicht Ursel? Der Anrufer war unbekannt. Wer unterdrückte denn heutzutage noch seine Nummer. Wahrscheinlich ein Betrüger, der es auf alte Menschen abgesehen hatte.
    „Hallo Ursel, du hast nicht gerade angerufen, oder?“ Donald war wieder auf seiner Couch.
    „Nein, wieso?“
    „Ich dachte nur … aber die Nummer war unterdrückt, egal. Aber weißt du, das war eben wieder typisch, da häng ich den ganzen Nachmittag auf dem Sofa rum, geh einmal aufs Klo und ausgerechnet dann ruft jemand an und der spricht nicht mal auf die Mailbox.“
    „Das kenn ich. Oder du hast dein Handy immer dabei, wirst ständig angerufen, aber wenn du einmal was ganz Dringendes checken willst, hast du keinen Empfang.“
    „Und warum rufen Mütter immer an, wenn man mitten beim Sex ist?“
    Sie musste lachen. „Kenn ich. Und was machst du gerade?“, fragte sie.
    „Na, weißt du doch, ich mache Urlaub.“
    „Hast du noch was vor oder bist du im TV-happy-Land?“
    „Ich glaube Letzteres. Ist zwar schön draußen, aber irgendwie kenn ich die Gegend schon. Und der Reiseführer, den ich neulich auf der Auer-Dult gekauft habe, ist leider schon etwas veraltet.“
    „Mach dir kein Stress, ist eh zu heiß. Ich glaube ich schmilz bald.“
    „Kann passieren … Musst du heute noch lange?“
    „Mal sehen, hier stapelt sich einfach alles.“
    „Wollen wir nachher noch an die Isar – ich kann ja was mitnehmen?“
    „Gute Idee, aber sorry, ich gehe mit Birgit und Heike Joggen. Kannst natürlich mitkommen, wenn du willst.“
    Donald zögerte. „Ich weiß nicht“, sagte er mit einem Gähnen in seiner Stimme.
    Ursel lachte. „Dann noch viel Spaß, stress dich nicht. Wenn du willst, kannst du ja später vorbeikommen, wir kochen was und du bleibst bei mir.“
    „Das hör sich doch gut an“, antwortete er. „Ich kann ja was einkaufen. Was wollen wir denn machen?“
    „Meinst du kulinarisch oder anderweitig?“
    „He, ich dachte du bist in der Arbeit?“
    „Die Kollegin ist schon weg, ich bin ganz alleine ...“ Sie seufzte. „Weißt du was, kauf einfach was Leckeres – mit Huhn.“
    „Alles klar, mit Huhn. Wann soll ich kommen?“
    „Wie wär‘s um acht?“
    „Gut, dann bis acht. Tschüss!“
    „Tschüss!“
    Etwas mit Huhn, dachte er. Dann blickte er zu Janice. Die Katze mag sicher auch was mit Huhn.
    Als hätte sie ihn denken hören, öffnete sie ihre Augen und starrte Donald erwartungsvoll an.
    „Manchmal bist du unheimlich, weißt du das?“
    Janice erhob sie sich langsam, machte einen Buckel und streckte sich. Dann sprang sie vom Sofa, schnurrte und strich um seine Beine.
    Warum mussten Katzen aus allem eine Show machen, dachte er sich. „Na gut, Janice, dann schauen wir mal, was wir für dich finden“
    Sie maunzte und ging zum Futternapf.
    Ich war nie mehr als ein Dosenöffner für sie, dachte er, ich habe immer geglaubt, dass sie etwas für mich empfände. Doch dann musste ich eines Tages feststellen, dass sie auch woanders Futter bekam. Das war so verletzend ... Ob man daraus auch noch einen Beitrag fürs Nachmittagsfernsehen machen konnte? Er sollte besser mal raus gehen und die Glotze abschalten.
    Geifernd machte sich Janice über das Futter her, als ob es ihr letztes wäre. Schließlich war sie fertig, schleckte sich ums Maul und schaute ihn an.
    „Janice, wie viel ist zwei plus zwei? Wie viel ist zwei plus zwei?“
    Sie ignorierte ihn und verschwand durch die Katzenklappe an der Balkontüre.
    „Daran müssen wir noch arbeiten, sonst kommen wir nie ins Fernsehen!“, meinte er und warf die leere Dose in den gelben Sack.
    Katzen hatten immer Urlaub. Und was für ein Leben; auf dem Sofa schlafen, schnurren, auf den Teppich kotzen …Donald lehnte sich zurück. „Machen Sie mal Urlaub!“, hatte sein Chef gesagt. „Bevor er weg ist. Sie haben noch zehn Tage Resturlaub, genau zwei Wochen, das ist doch ideal.“
    Donald konnte schlecht widersprechen, außerdem hatte er schon angedeutet, dass er sich frei nehmen wollte, allerdings erst Ende des Monats, weil da ein Konzert in Köln war, auf das er wollte.
    „Was halten Sie davon, wenn Sie ihn ab nächster Woche nehmen? Das Wetter soll sehr heiß werden und Frau Neuzer kommt am Montag wieder, dann haben wir den Praktikanten und außerdem ist gerade ein bisschen Luft.“ Er sah Donald fragend an.
    Der wollte ihn loshaben, das war offensichtlich. Konzert hin oder her, wahrscheinlich gab‘s sowieso keine Karten mehr. „Gerne, dann machen wir das so.“
    „Ja, McPherson, ausgezeichnet! Gönnen Sie sich etwas Ruhe, entspannen Sie sich, gehen Sie mit Ihrer Freundin an die Isar, trinken Sie Wein, genießen Sie die schönen Tage!“ Und dann war er schon wieder weg. So viel zu konstruktiven Mitarbeitergesprächen.
    Einkaufen, dachte er, die Läden waren noch lange auf, da war noch genug Zeit. Vielleicht sollte er aufräumen. Seine Mutter kam morgen vorbei. Er musste mal mit ihr reden. So ging es nicht weiter.
    Als müsste er einen sehr hohen Berg besteigen, raffte er sich auf und ging Richtung Küche. Schon der Anblick entmutigte ihn. Fünf Uhr. Lohnte sich das Ganze überhaupt? Skeptisch griff er nach einem Lappen.
    „Keiner konnte mir sagen, wie man mit dieser Situation umzugehen hatte. Ich fühlte mich in diesem Moment minderwertiger ...“, sagte ein Mann, der irgendwie erkrankt war und dessen Frau ihn mit einem anderen betrog.
    „Man fühlte sich unattraktiv, in jeder Hinsicht. Das tut weh. Wann hört das auf?“ So eine Frau, die ein vergleichbares Schicksal teilte.
    Donald schaltete weiter. Das war ja fast wie bei ihm und seiner Katze. Er sollte doch mal eine von diesen Produktionsfirmen mailen. Die machten ja aus allem eine Meldung. Katze frisst fremd – Besitzer am Boden zerstört. Aber es kam nichts anderes um diese Zeit. Da hatte er noch diese ganz furchtbaren Pseudo-Reality-Soaps, konnte man neben Waterboarding auch zur Folter verwenden. Vorabendmagazine, wenigstens vielleicht mal Mainzelmännchen. Edi und Konsorten. Mord im Schwimmbad. Grenzwertige Sitcom.
    Also Hühnchen, dachte er. Asiatisch? Oder im Ofen? Wie hatte es denn die Katze?
    Donald holte die Dose wieder aus dem Sack und las das Kleingedruckte. Feines Hühnerragout mit Erbsen und Karotten. Hühnerfleischanteil mindestens drei Prozent.
    Mehr als drei Prozent sollten es heute Abend schon werden, dachte er sich. Erbsen und Karotten, warum nicht? Und Reis. Das wäre die Idee für ein neues Hipster-Kochbuch: Rezepte von Tierfutterdosen.
    „Ich suche nach neuen Inhalten. Es ist halt so.“
    So, so.
    „Sie hat’s mir gesagt, dass ich der Mann bin, mit dem sie leben wollte.“
    Jetzt vertrugen sie sich wieder allesamt. Alle waren glücklich – wegen der Kinder. Und sie tanzten und sie lachten, und sprangen im Garten händchenhaltend um einen niedlichen Hund. Was für ein Ende!
    Und diese Musik. Donald schaltete den Ton ab. Es kam ein Werbeblock: Menschen gingen durch eine Türe, die komplett im Freien stand, machten komische Handbewegungen, dann streichelte ein Kind ein Hund. Dann Boote auf einem See, jemand kam aus der Luft gefallen, ein Blick durch ein Fernglas: noch mehr Boote mit Buchstaben darauf. Kinder bewegten sich wippend, ein Joghurt wurde gezeigt, dann eine Comicfigur. Eine Frau erzählte etwas, ging dann zum Kühlschrank und nahm ein Milchprodukt heraus, das sie dann konsumierte. Ein Lächeln auf ihrem Gesicht? Menschen saßen fröhlich am gedeckten Gartentisch und aßen Wurst. Erzählten etwas und deuteten wie Magier auf die angerichteten Fleischwaren. Dann kamen spielende Kinder ins Bild, die einem Hund hinterherliefen.
    „Die Bedeutung des Hundes im deutschen Fernsehen“ so könnte seine Dissertation lauten, dachte sich Donald. Ohne Ton wirkte die Werbung abstrakt. Wie ein Kunstwerk, das jemand unter Drogeneinfluss gemacht hatte. Sein Handy klingelte und riss ihn aus seinen Gedanken.
    „McPherson, hallo?“ Dieses Mal nach dem zweiten Klingeln.
    Ein Fax piepte am anderen Ende. In der Hoffnung, es würde etwas nützen, sagte er: „Das ist die falsche Nummer, ich habe kein Fax!“ Wer hatte denn überhaupt noch ein Fax und wer war so blöd eines ins Mobilnetz zu schicken? Wahrscheinlich vertippt.
    Hoffentlich hatten sie keine automatische Wahlwiederholung. Im Büro konnte man ein Fax speichern und angeben, wie oft die Maschine es versuchen sollte, falls es am anderen Ende nicht klappte.
    Egal, er schaltete die Mailbox ab.
    „Du hast einen zweiten Sohn!“
    „Margarete, ich kann dir alles erklären!“
    „Und wann wolltest du mir das sagen? Morgen, wenn wir verheiratet sind?“
    „Ich war noch jung ...“
    Achtzehn Uhr Dreißig. Donald schaltete ab. Dieses Mal wirklich. Ein Huhn für Ursel und Donald. Und Janice hat ihres schon bekommen, immerhin einen Anteil von mindestens drei Prozent.
    Er nahm eine Stofftasche, packte seinen Geldbeutel ein, stieg in seine alten Sandalen und öffnete die Türe. Beim Hinausgehen ließ er seinen Blick noch einmal über die Wohnung schweifen und trat hinaus.
    Zu unordentlich sollte seine Wohnung auf keinen Fall sein, sonst wäre ja nichts zu tun. Morgen um Drei kam seine Mutter. Wenn es zu schmutzig war, musste er sich endlose Belehrungen anhören. War es zu sauber, war sie beleidigt.
    Er überlegte, wann das alles angefangen hatte. Früher, als er noch bei seinen Eltern wohnte, war es bei ihnen überhaupt nicht ordentlich gewesen. Drei Kinder. Erst als sie in Rente gegangen war, da fing es an. Der Hang zur Reinlichkeit. Würde er auch einmal so werden? Wie war er denn jetzt? Früher hatte er lange Haare, wetterte über die festgefahrenen Strukturen der Gesellschaft und die bequemlichen Bürger, die sich vom Geld korrumpieren ließen.
    Früher. Und heute? Das war ihm egal. Er schloss ab. Dann die Treppe, die Nachbarn, alle hinter ihren Wohnungstüren, ein jeder glücklich in seiner Schachtel, alles geputzt, die Erde von den Schuhen gebürstet und aufgeräumt. Eine Arbeit ohne Ende. Kaum war man fertig, setzte die Unordnung wieder ein. Das ewige Treiben des Universums. Von dieser Warte aus betrachtet, wirkten Schwarze Löcher plötzlich viel attraktiver auf ihn.
    Seit Donalds Vater gestorben war, hatte sich für seine Mutter alles verschlimmert. Die Einsamkeit. Gerade in Rente, dann, wenn man noch einmal aufblühen konnte, endete es abrupt für einen von ihnen. Er hatte den Eindruck, dass sie sich deshalb so an ihn ranhängte. Immerhin war er der Einzige, der noch in Deutschland wohnte. Seine Schwester Claudia war vor zwei Jahren mit ihrer Firma nach Sidney gegangen und der Jüngste von ihnen, Frank, studierte zurzeit in Bakersfield, Kalifornien.
    Und mit Ursel kam sie nicht klar, das wunderte ihn ein wenig. Sie war ihr zu selbstständig, zu selbstsicher, eben keine Frau, die Kinder wollte und im Putzen eine innere Erfüllung fand. Woher kam das alles? Früher war sie doch auch nicht so, ganz im Gegenteil, war berufstätig, hatte sogar zwei Jahre im Ausland gearbeitet – eigentlich eine ungewöhnliche Biographie für eine Frau ihrer Zeit, eigentlich Ursel recht ähnlich. Und im Alter, plötzlich wie ein Mütterchen aus der Werbung? Sie sollte vielleicht weniger fernsehen.
    Er hatte den Eindruck, dass seine Mutter glaubte, die Welt wäre früher – damals - noch in Ordnung gewesen, im Gegensatz zu heute. Dabei war es damals auch nicht besser, nur hatte sie die schlechten Dinge vergessen. Die ständigen Wutausbrüche seines Vaters, der war auch nicht immer happy. Und wie sie umziehen mussten, weil er arbeitslos wurde - auch nicht einfach. Irgendwie hatten sie es aber trotzdem geschafft, ordentlich verdient und ein paar Immobilien gekauft. Heute unbezahlbar. Aber das konnte man damals. Vielleicht hatte sie ja recht. Er checkte auf seinem Smartphone die Wetter-App und ging nach draußen.

Der Gemüseladen. Bio-Gemüse. Innen war es kühl und erfrischend. Kühle Erbsen, frische Karotten.
    Donald blickte interessiert auf die Regale und blieb an einer Stelle hängen. „Woher kommen denn die Karotten?“
    „Aus Rosenheim“, antwortete der Mann hinter der Kasse.
    „Baut man da Karotten an?“
    Der Verkäufer zuckte mit den Achseln. „Ja klar, das Gemüse kommt von einem Bio-Hof in der Nähe von Rosenheim. Der Kohl, und die Kartoffeln kommen ebenfalls von dort.“
    Donald nickte interessiert. War ihm eigentlich egal. Sie sahen gut aus. Sonst kaufte er immer im Supermarkt ein. Heute lag der Laden auf seinem Weg. Seit Ursels kleine Schwester einmal in den Ferien in einem Bio-Laden gearbeitet und über die hygienischen Zustände dort berichtet hatte, war sein Vertrauen in diese Sparte erschüttert. Sie hatte den Schimmel vom Pesto und anderen „Frische“-Produkten kratzen müssen. Aber das war damals. Heute war sicher alles anders.
    „Sie haben ja einen Hund“, bemerkte Donald und deutete hinter den Verkaufstresen.
    „Ja, ja, ist ein braver Kerl.“
    „Kann der auch rechnen?“, fragte er scherzhaft.
    „Nein, natürlich nicht! – Das hab ich auch gesehen! Das ist ja das Letzte! Das ist ja eine totale Verarsche. Ich meine, kluge Hunde gibt es sicher, aber den Leuten so einen Stuss zu verkaufen, das ist ja wirklich das Allerletzte! Das brauchen Sie nicht zu glauben, was da gezeigt wird! Unglaublich. Und dann muss man noch für so was Gebühren zahlen, eine Unverschämtheit ist das, nicht wahr?“
    Donald nickte nur, obwohl der Bericht auf einem Privatsender gelaufen war, nahm noch ein paar Erbsenschoten aus Kenia mit und fragte sich, wie denn der Verkäufer dazugekommen war, die Sendung von heute Nachmittag angesehen zu haben. – War wohl nichts losgewesen im Laden. Smartphone und Fernseh-Apps sei Dank. Nächster Bericht: Streit um Hansi, die traurige Geschichte eines Betrüger-Hundes. Ich war jung. Ich brauchte das Geld. Ich wusste, dass ich nur vier Mal bellen konnte, aber ich suchte die Anerkennung. Irgendwann konnte ich damit nicht mehr aufhören.
    Er ging zur Kasse, packte die Sachen in seinen Stoffbeutel und zahlte. „Wiedersehen.“ Donald verließ den Laden und trat auf den staubigen Boden in die Hitze hinaus. Jetzt fehlte nur noch das Huhn.

„Essen ist fertig!“
    „Wahnsinn! Das riecht ja total lecker!“
    „Alles Bio! Und total nachhaltig und die Hähnchen sind auf einer grünen Wiese mit einem Hund rumgetanzt und ….
    Sie schaute ihn fragend an. „Es schmeckt jedenfalls super, ganz egal, was die Hähnchen gemacht haben.“
    „Magst du einen Prosecco?“
    „Gerne - dann hol ihn doch und lass uns anstoßen.“
    Donald ging zum Kühlschrank und nahm eine Flasche, griff nach zwei Gläsern im Schrank und stellte sie auf den Tisch. „Bei dir ist immer alles so ordentlich.“
    „Ich koch so selten. Und meine Wäsche schmeiß ich immer in den Korb.“ Sie zuckte mit den Achseln
    „Aber sag mal, ganz was anderes. Apropos Ordnung, was soll ich denn mit meiner Mutter machen? Ich hab’ dir schon erzählt, dass sie immer zum Putzen vorbeikommt. Morgen ist es wieder so weit. Und das nervt total. Seit sie in Rente ist, bildet sie sich ein, dass sie ständig bei mir sauber machen soll. Ich meine, das ist doch krank. Merkt die das nicht? Ich will sie ja nicht beleidigen, aber morgen sag ich ihr, sie soll das bitteschön lassen. Hat die sonst nichts zu tun? Aber wenn man sie mal braucht, um die Katze zu füttern, dann hat sie immer keine Zeit, ist mit ihren Freundinnen unterwegs oder was weiß ich.“
    „Kenn ich. Würde meine Mutter auch am liebsten machen, zum Glück wohnen meine Eltern in Freienhagen.“
    „Wo war das, bei Kassel, oder?“
    „Genau, und ein Arbeitskollege hat das gleiche Problem. Ich glaube das gehört bei der Generation-Rentner mit zum guten Ton. Für die ist die Apotheke ein Süßigkeitenladen und Sauberkeit der Grundzustand alles Seins.“
    „Ach, ja. Mir tut sie ja irgendwie leid. Aber das ist so unangenehm. Ich muss vorher alles wegräumen, was mir peinlich ist – und zu unordentlich darf es auch nicht sein. Ist ja fast wie früher mit meinem Zimmer.“
    „Sag es ihr einfach. Was anderes hilft nicht. Ich kenn sie zwar nicht gut, aber ich habe den Eindruck sie ist schon ein Controll-Freak und will über diese Masche einfach Druck ausüben.“ Ursel machte eine kurze Pause. „Aber sonst versteht ihr euch gut, oder?“
    „Ja, schon. Aber ich habe kein Bock mehr auf die Nummer. Morgen mach ich was mit ihr – vielleicht Eis essen.“
    „Das ist doch eine Idee, besser als sich immer zu ärgern.“
    „Ich weiß nicht“, meinte Donald, „ob das was nützt. Aber egal, stört es dich, wenn ich den Fernseher anmache?“
    „Nein, gar nicht.“
    Donald nahm die Fernbedienung. Und wieder kam Werbung und wieder ein Hund. „Ach, das muss ich dir erzählen“, fing er an. „Stell dir vor, da kam heute Nachmittag ein Bericht über einen Hund, der angeblich rechnen konnte, aber man hat gleich gemerkt, dass das Ganze Quatsch ist. Angeblich hat der sogar den Kindern bei den Mathehausaufgaben geholfen und so. Totaler Schwachsinn. Jedenfalls gehe ich dann nachher in den Gemüseladen und sehe, dass da ein Hund hinter dem Tresen ist, frage den Besitzer scherzhaft, ob der Hund auch rechnen kann und auf einmal regt der sich auf – der hat die Sendung wohl auch gesehen – das wäre das Allerletzte und so weiter, und man darf ja überhaupt nicht mehr glauben, was da so gezeigt wird und so weiter.“
    „Es kommt ja auch viel Mist. Und das merkt man immer im Urlaub. Sonst schau ich ja nur abends – nicht, dass es da besser wäre.“
    „Das stimmt. Kein Wunder, dass sich manche Leute über die ,Lügenpresse‘ aufregen.“
    „Naja, das ist aber noch was ganz anders.“
    „Du hast Recht“, er dachte kurz nach. „Ich glaube, dass die eigentliche Verschwörung darin liegt, dass Außerirdische die Technologie für das Fernsehen absichtlich auf der Erde platziert haben, um die Menschheit zu verdummen, damit man sie leichter erobern kann.“
    „Das könnte fast wirklich stimmen. Neulich, vor einem Monat, da war ich doch mal krank, und da hab ich auch den ganzen Tag geglotzt. Das war bitter“, meinte Ursel.
    „Ich hatte ja mal Windpocken, das war in der dritten Klasse. Damals war es ganz neu, dass vormittags Wiederholungen von Filmen gekommen sind. Und an einen kann ich mich noch ganz klar erinnern, der hieß: ,Die Kugel war Zeuge’. Ein Krimi. Hat mich schwer beeindruckt.“
    „Ja, damals, die gute alte Zeit. Weißt du noch, wo wir jung waren, da gab’s noch Reichsmark.“
    „Jetzt hör aber auf. So schlimm bin ich auch wieder nicht.“
    „Was? Ich sag doch gar nichts. Hast du die neue Apothekenrundschau schon gelesen? Was machen die Gallensteine? Schon inkontinent oder auf Haftcreme?“ Ursel lachte.
    Donald schwieg. Und ließ sich berieseln. Früher hatte er nie an früher gedacht. Da gab es so etwas noch nicht für ihn. Aber, dass man sich über die Presse aufregte, war wohl schon immer so gewesen. Er musste daran denken, wie oft sein Vater über die Zeitung geschimpft hatte – gelesen hatte er sie trotzdem. Was ihn allerdings heute an der Behauptung mit der „Lügenpresse“ störte, war, dass sie viel zu pauschal war. Als wäre eine Verschwörung oder eine böse Macht dahinter. Leute haben schon immer aus ihrer Sicht berichtet, und war nicht etwas ganz Ähnliches in den 60er-Jahren mit dem Springer-Konzern und ihrer Bild-Zeitung geschehen? Damals hatte man sich auch aufgeregt. Aber heute? Seiner Meinung nach wollen diese Leute heute meistens nur das hören, was sie hören wollen. Leben in ihren Echoräumen, werden nur noch von Nachrichten aus den Social Media gefüttert, die sie interessieren, geben sich nur noch mit Leuten ab, die die gleiche Meinung haben, bestätigen und liken sich gegenseitig, machen den obligatorischen Shitstorm, bei Sachen, die sie nicht mögen, geben überall ihren Senf dazu, werden von ihrer Comunity bestätigt, außer der es sowieso niemand interessiert, finden alles scheiße außer sich selbst, gehen aber trotzdem beim Discounter einkaufen wie alle. Und wenn jemand was über sie brachte, das ihnen nicht gefiel, dann war es eben die Lügenpresse. Sehr praktisch. Sollte er auch so machen. Da sparte man sich viel Nachdenken.