Leseprobe

Sieben Tage (im Leben von Thomas Gerber)Teil I der Trilogie Vollrausch

Samstag

Was ist Wahrheit?“
    „Und da er das gesaget, ging er wieder hinaus ... uuund“ der Solist unterbrach seinen Gesang. „und ... Nein, nein, nein, ich kann so nicht arbeiten!“
    Der Dirigent sah den Sänger fragend an.
    „Dieser Lärm, dieser unerträgliche Lärm von der Straße. Ich kann mich so nicht konzentrieren. Meine Stimme schwebt sozusagen nur noch über dem Abgrund. Ich höre mich selbst nicht mehr!“
    „Kann jemand die Fenster schließen und die Jalousien runter, auch wenn es etwas stickig ist.“ Der Dirigent nickte freundlich in Richtung des Chores. Seine Haare wippten etwas und eine kahle Stelle auf seinem Kopf blitzte auf.
    Thomas fühlte sich angesprochen und ging nach hinten. Als er den Schalter der Rollläden bediente, fiel sein Blick auf die milchig-weiße Luft, die über der Stadt hing. Unzählige Autos quälten sich in diesem Moment durch die überfüllten Straßen und verbreiteten Feinstaub. Die Sonne schien heiß auf die Passanten herab, und ließ die Ozonwerte in die Höhe schnellen. Die meisten von ihnen bemerkten nichts davon und hantierten mit ihren Smartphones. Das Licht von draußen wurde schließlich abgeschnitten, als die Rollos unten waren, und jemand schaltete die Neonlampen an. Thomas ging an seinen Platz zurück. Frechheit, dachte er sich, bei diesem schönen Wetter alles zu verrammeln. So war die Luft noch schlechter als vorher. Der Solist hatte sich einfach nicht gut genug vorbereitet, das war alles. Und nun suchte er nach Ausreden für sein Versagen.
    Der Chorleiter hob seinen Stab – das hatte etwas Würdevolles. Und alle waren plötzlich still. „Wir beginnen am besten noch einmal bei 18a. Ist das in Ordnung für Sie?“ Mit dem Blick zum Solisten gerichtet: „Leise genug? - sollen wir die Vorhänge ...“
    „Nein, nein, ich denke, das ist völlig genügend.“
    „Also ... und!“ Der Sänger setzte auf sein Zeichen ein, während sein Assistent aus der Partitur am Flügel spielte.
    Thomas schweifte mit seinen Gedanken ab – an dieser Stelle hatte der Chor eine Pause. Wie hatte die Stadt vor 283 Jahren ausgesehen, als das Werk zum ersten Mal aufgeführt wurde, fragte er sich. Wie sahen die Menschen aus? Viel mehr Wiesen und Felder, Pferde, Esel, Ochsen? Damals gab es das Hauptgebäude der Universität noch gar nicht. Vielleicht kleine Stadthäuser. Und wo sich das Gebäude mit dem Probenraum befand - ein Neubau nach dem Krieg - wuchsen wahrscheinlich Bäume oder bestenfalls fuhr die eine oder andere Kutsche oder ein Ochsengespann vorbei.
    Wie alt war er? - nun fast schon 35 Jahre, das war wohl damals ein schon höheres Alter. Den Zenit schon überschritten, noch 20 Jahre bestenfalls, wenn man Glück hatte. Vielleicht hätte er nur mehr ein paar Zähne, eine Frau, zehn Kinder und irgendeine Hütte ohne laufendes Wasser ohne Strom. Natürlich hätte er sich damals eine musikalische Ausbildung gar nicht leisten können, sondern wäre wie seine Großeltern ein armer Bauer gewesen. Keine Handys, keine Technik, kein Geld.
    Was würde nur geschehen, wenn alle, die sich in diesem Raum befanden, durch eine Naturkatastrophe oder eine außerirdische Macht plötzlich auf eine einsame Insel verschlagen würden? Also wieder zurück in die Steinzeit? Er grübelte und sah sich um. Das wäre grauenhaft! Fast jeder von ihnen ein Künstler und der Rest solche, die es gerne wären. Wahrscheinlich würden sie herumirren und darüber streiten, wer der beste Komponist wäre. Vielleicht hätten sie dann nicht genug Nahrung und wären gezwungen sich gegenseitig zu fressen.
    Thomas Blick fiel auf den Solisten. Fett genug wäre er ….
    Diese Mal brach der Dirigent ab. „Nicht vergessen, Takt zehn ist das A wieder aufgelöst. Aber hier auch genauer auf mein Zeichen, bitte.“
    „Was ist Leiden?“, summte Thomas in Richtung seines Kollegen neben ihm.
    „Sei bitte still, ich kann mich sonst bei diesem Lärm nicht konzentrieren,“ erwiderte dieser und rieb angestrengt seine Schläfen.
    „Bitte noch einmal von Anfang. Achtung!“
    Erneut setzten der Solist ein.
    Vielleicht würden sie einen totalitären Staat auf dieser Insel errichten, in dem jeder, der dick war oder versuchte seine Halbglatze mit den Resthaaren zu verstecken, versklavt werden würde? Thomas gefiel die Variante mit dem Grillen besser.

Thomas hatte die Melodien immer noch im Ohr, als er in sein Auto stieg. weg, weg mit dem, weg, weg, mit dem, weg, weg, mit dem weg, weg Er musste sich beeilen, er hatte wieder einmal einen Termin übersehen und daher kaum Zeit, einen anderen einzuhalten. Einerseits wollte er sich mit seinem Freund auf einer Weinprobe treffen, andererseits sollte er aber nur etwas später zusammen mit seiner Frau seine Schwiegereltern besuchen, die nicht weit entfernt von hier lebten. Je mobiler man war, desto weniger Zeit hatte man. Je mehr Zeit man hatte, desto mobiler war man. Er schüttelte den Kopf. Termine hier, Treffen da, ausgehen, einkaufen, Besorgungen. Manchmal war es ihm auch zu viel. Wo waren nur die Tage, an denen er nach den Hausaufgaben hinauslief und erst bei Anbruch der Dunkelheit wieder nachhause kam?
    Der Konzerttermin rückte immer näher und so hatten sie eine Probe nach der anderen. Dieses Jahr hatte ihr Ensembleleiter ganz entgegen seinem üblichen Geschmack etwas Besonderes ausgewählt. Alle waren erleichtert gewesen, als er Anfang des Jahres seine Konzertpläne offenbarte. weg, weg mit dem weg, weg Unzählige Abende mit romantischen Chorstücken hatten sie bereits hinter sich. Sie hatten Lieder wie die „Lustige Forelle“ gesungen, die beim ersten Höhren vielleicht noch ein zuckendes Lächeln um den Mund herum zaubern konnten, aber spätestens beim zweiten Mal nur noch zum Gähnen einluden. Oder das „Lustige Zigeunerleben“, in denen alle vor Lagerfeuern tanzten und lachten. Wieso begannen fast alle dieser Lieder mit „lustig“, fragte er sich.
    „He, weg da!“ Er wich einem Motoradfahrer aus, der ihn geschnitten hatte. War wohl auch zu spät dran, dachte er. Früher wäre er wohl der schnelle Reiter gewesen, der eine wichtige Botschaft an irgendeinen Grafen bringen und sich den Weg durch das Kutschengetümmel bahnen musste.
    Thomas lächelte bei dieser Vorstellung, allerdings nur kurz, denn zu allem Überfluss geriet er auf dem Mittleren Ring in einen Stau - die letzte Abfahrt war erst 100 Meter vorbei und für einen kurzen Moment überlegte er, ob er nicht einfach rückwärts auf die Kreuzung fahren und abbiegen sollte. Ihm war danach, auszusteigen und über die Autodächer zu laufen.
    Entnervt schaltete er das Radio an. Es drang das übliche Gedudel heraus. Damals hatten die Menschen noch gesungen, um sich zu unterhalten, dachte er, heute wurde man an allen Ecken und Enden beschallt. Und das Schlimmste war, dass ohne einen beständigen Geräuschpegel im Hintergrund beinahe etwas fehlte. Sie standen. Nichts ging mehr.
    Vielleicht sollte er singen, das könnte ihn beruhigen. Irgend etwas Passendes zum Thema - er blätterte in seinen Noten. Er begann zu singen: Da nun Jesus seine Mutter sahe und den Jünger dabei stehen, ... Na, wenigstens stehen die in keinem Stau, dachte er sich, die haben ganz andere Probleme ... den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn! Darnach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter!
    Thomas blickte auf - der Beifahrer im Auto nebenan starrte ihn an, als wäre er nicht ganz dicht. „Na, dann eben nicht, geht sowieso weiter“, murmelte er und legte das Notenbuch wieder auf den Sitz.
    Nach einigen Metern kamen sie erneut zum Stehen. Es würde etwa zehn Minuten dauern, bis er sich mit der Lage abgefunden und in eine tiefe, gleichgültige Resignation fallen werde. Wenn es dann einigermaßen weiterging, würde er in Euphorie verfallen und versuchen, die verlorene Zeit mit Geschwindigkeit wieder wettzumachen. Sein Traum bestand momentan darin, einige Sonderanfertigungen an seinem Auto zu haben, er dachte da an eine schwergeschossige Kanone oder einen Flammenwerfer. Sein Blick fiel auf das Radio und er stellte es lauter, das Gedudel hatte aufgehört und das hatte ihn neugierig gemacht. Es gab ja sonst nichts zu tun. Die Verkehrshinweise: Stau auf dem Mittleren Ring wegen Unfall. Das konnte er sehen. Irgendwie beruhigend, live dabei zu sein. Gab es damals auch schon Staus, fragte er sich. Eine Kutsche hinter der anderen, weil irgendwo weiter vorne ein Pferd zusammengebrochen war? Nach einer Viertelstunde ging es weiter.
    Er nahm sein Handy aus der Tasche und tippte die Telefonnummer von zuhause ein. Wenigstens schneller als Brieftauben, dachte er sich. Seine Frau war dran.
    „Hallo Schatz, ich war gerade ewig im Stau. Ich weiß nicht, ob ich rechtzeitig kommen kann, ich hatte ganz vergessen, dass ich mit Wolfgang auf eine Weinprobe gehen wollte.“
    „Das macht nichts, meine Eltern haben gerade angerufen, es geht erst später bei ihnen - um Drei.“
    „Alles klar, ich beeile mich, ist sowieso im Weinladen bei uns ums Eck. Tschüß!“ Er legte das Handy auf den Beifahrersitz. Glück im Unglück, dachte er sich, weil die Treffen mit seinen Schwiegereltern meistens etwas anstrengend waren. Wenigstens musste er Wolfgang nicht absagen und hatte bei dieser Gelegenheit genug Zeit, über ihr neues Projekt zu sprechen.

Als er den Weinladen betrat, stieg ihm schon der aromatische Duft in die Nase. Hier war eine Welt für sich, wie eine Insel auf einer Insel: Die Stadt, der urbane Lebensraum, abgeschnitten vom Land, das sie umgab und wieder darin ein kleines Eiland. Viele Menschen standen bereits im Verkaufsraum, hielten sich die Gläser an die Nase und unterhielten sich angeregt. Er und Wolfgang hatten die Idee im Netz etwas mit Wein- und Kochtipps zu machen - nichts wirklich Neues, aber so konnten sie zumindest ihr Hobby ein bisschen publik machen. Ob es etwas brachte, außer viel Arbeit, war ihnen egal. Vielleicht würde sich daraus etwas entwickeln, ein paar Werbeeinnahmen oder gute Verbindungen in die Wein-Branche.
        Als er sich umsah, entdeckte er, dass Wolfgang sich einen guten Platz direkt am Verkaufstresen ergattert hatte. Gläser und etwas Brot standen schon bereit. „Ah, hallo, Thomas, du kommst spät.“
    „Ja, ja“, murmelte er. „Die Probe hatte etwas länger gedauert und dann war natürlich Stau, wie immer. Und wieso hört man die Meldungen im Radio erst dann, wenn man sowieso schon feststeckt und nicht mehr anders fahren kann?“
    „Egal, jetzt bist du ja hier, entspann dich und lass dir doch ein Glas Wein geben. Nehmen wir mal die Nummer 21 für den Anfang.“
    Als man ihm eingeschenkte, brach Thomas ein Stück Weißbrot auseinander und aß es. Dieser Wein war wenigstens umsonst. In letzter Zeit nahm es immer häufiger zu, dass sogar für einzelne Proben Geld verlangt wurde. Wo sollte das nur hinführen? Nicht einmal umsonst konnte man sich betrinken.
    Als der Verkäufer andere Kunden bediente, bot sich immer die Gelegenheit über die Weine zu lästern. „Was kostet der denn?“, fragte Thomas.
    Wolfgang blickte auf die Liste. „Hm, 30 Euro.“
    „Dreißig Silberlinge wollen die dafür? Ganz schön gesalzene Preise. Wenn das so weitergeht, muss ich meinen Chef um eine Gehaltserhöhung bitten ... und außerdem korkt der.“
    Wolfgang hielt prüfend seine Nase über das Glas. „Richtig, er korkt - und wie! Hallo, Entschuldigung ...“, rief er zum Verkäufer hinüber. Als er dann endlich kam, fuhr er fort: „Die Nummer 21 korkt. Können wir bitte eine andere Flasche zum Verkosten haben?“
    Gelassen nahm der Mann hinter dem Tresen ein Glas, schenkte sich ein und roch daran. „Also, das ist mir jetzt peinlich. Der korkt ja total.“ Er blickte auf die Flasche. „Unglaublich, die ist ja schon fast leer - dass sich da niemand vorher beschwert hat.“ Er kratzte sich ungläubig am Kopf. „Selbstverständlich hole ich Ihnen sofort einen neuen Wein.“
    „Ja, ja, fast wie im richtigen Leben, erst wenn es fast vorbei ist, merkst du wie beschissen es war.“, kommentierte Wolfgang. „Wie die sich teilweise auch versuchen herauszuwinden,“ fuhr er fort.
    „Wie meinst du das?“
    „Einmal war was ganz Ähnliches bei einer Bordeaux-Probe und als ich reklamierte, sagte der Typ doch glatt: ,Das kann gar nicht sein, den Wein habe ich persönlich beim Winzer gekauft. Das ist bestimmt das Holz. Für mich korkt der nicht.‘ Aber was ist das denn für ein Argument - persönlich beim Winzer? Jeder kauft doch die Weine beim Winzer, auch der Supermarkt oder wo werden die denn sonst hergestellt?“
    Der Verkäufer hatte sich wieder zu ihnen gestellt und schenkte den neuen Wein ein. „Ja, das ist wirklich erstaunlich, was sich die Leute alles bieten lassen. Also, nichts für ungut, aber die Nummer 21 ist auch ohne Kork kein Highlight.“
    „Ist dafür aber ganz schön teuer ...“
    „Wem sagen Sie das! Aber, das Geschäft läuft. Ich kann mich nicht beklagen.“ Offenbar war der Mann der Eigentümer des Ladens. Gut gelaunt fuhr er fort:„Wissen Sie was, Sie können gerne probieren, was immer Sie auch wollen, das geht aufs Haus.“ Er nickte freundlich und wandte sich anderen Kunden zu.
    „Na, dann, Prost!“
    „Prost, Wolfgang!“
    Sie nahmen einen Schluck. Und Thomas verzog sein Gesicht. „Da stand ein Gefäße voll Essig“, sang er. „Fehlt nur noch, dass man ihn uns mit einem Schwamm auf einer Lanze reicht.“
    „Ich versteh kein Wort. Du sprichst heute in Rätseln. Erst die Silberlinge und dann singst du ...“ Wolfgang blickte ihn fragend an.
    „Na, wir arbeiten doch im Chor gerade an der Johannespassion, Jesus ist am Kreuz, hat Durst und man reicht ihm einen Schwamm, der mit Essig getränkt war. Das hat man wohl damals so gemacht.“
    „Ach so. Ich bin nicht so religiös.“
    „Ich ja auch nicht, aber irgendwie beschäftigt das einen schon.“
    „Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, Thomas, solange man kein Fanatiker ist, kann meinetwegen jeder seine Religion haben. Wann ist es denn so weit?“
    „Am Freitag um Acht. Hast du Zeit?“
    „Klar, glaube schon.“ Wolfgang machte eine Pause und blickte in sein Glas. „Wer wohl den ersten Wein gemacht hat?“
    „Ich denke, der ist durch Zufall entstanden: Jemand hat eine Gefäß voll Saft stehen gelassen und der hat dann angefangen zu gären. So einfach ist das.“
    „Der Fruchtsaft als Ursuppe des Weines. Das gefällt mir. Und über die Jahrtausende wurde der Prozess verfeinert. Und wer hätte gedacht, dass die Leute für eine Flasche dieses Zufallsprodukts ein Heidengeld zahlen würden.“
    „Und welcher Weinbauer hätte vor dreißig Jahren gedacht, dass er einmal mit seinen Reben reich werden könnte“, führte Thomas den Gedanken fort, „das waren doch nur ganz einfache Bauern. Der eine hat Kartoffeln angebaut und der andere eben Wein, oder so ähnlich.“
    „Ich hätte gerne mal eine Zeitmaschine. Stell dir vor, du könntest beliebig zurückreisen und die Leute beobachten, wie sie leben, was sie essen, allein schon vor fünfzig Jahren, da sah doch noch alles anders aus.“
    „Stimmt. Einmal habe ich einen Super8-Film von meinem Schwiegervater gesehen, das war allerdings Anfang der 70er-Jahre, da filmte er vom Olympiaturm herunter, und nördlich davon war alles Wiese, kein einziges Haus, nur Felder und Landwirtschaft. Und heute ist das mitten in der Stadt. Die ist ganz schön gewachsen.“
    „Ja, ja, wie die Zeit vergeht. - Gibt es Super8 überhaupt noch?“
    „Keine Ahnung, vielleicht bei irgendwelchen Liebhabern oder Hobby-Filmern“, entgegnete Thomas.
    „Und was ist mit unserem Projekt?“, wechselte Wolfgang das Thema. „Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht?“
    „Sicher, ich habe da einige interessante Rezepte.“
    „Weißt du noch wie wir einmal Heuschrecken gemacht haben?“
    „Richtig, die sind auch dabei, mit Knoblauch und Petersilie. Sehr lecker. Und Brennesselspinat!“
    „Fehlen nur noch Froschschenkel. Es sind aber nicht alle so exotisch, oder?“
    „Nein, nein, die meisten gibt es natürlich schon, die üblichen Sachen.“ Thomas kramte in seiner Mappe und holte einen USB-Stick heraus. „Ich habe sie schon mal aufgeschrieben, hier.“
    „Super, ich kümmere mich dann um die Weine. Ich dachte mir, wir machen drei Teile: Kochen, Weine und die Kombination der beiden, also welcher Wein zu welchem Gericht passt oder was man beim Kochen mit Weinen beachten soll.“
    „Hast du schon eine Idee, wie wir das Ganze nennen sollen?“
    „Nein, das ist wohl das Schwierigste. Die meisten Sachen mit Wein und Küche werden wahrscheinlich schon vergeben sein. Aber, da muss man eben googeln. Ich habe auch schon Einiges geschrieben, das schicke ich dir in den nächsten Tagen zu - muss noch was ändern.“
    „Darauf stoßen wir an!“
    „Mal sehen, was hältst du von dem.“ Wolfgang deutete auf die Liste. „Der scheint mir dafür recht geeignet zu sein.“
    „Wahnsinn, eine Kiste von dem ist mehr wert als mein Auto!“
    „Eben!“ Wolfgang winkte höflich dem Verkäufer. „Entschuldigung, wir hätten gerne die Nummer 33, bitte!“


„Hallo Liebling, bist du schon fertig? Meinetwegen können wir gleich fahren.“
    „Ah, sehr gut, wollte dich gerade im Weinladen abholen.“
    „Ich hoffe, wir sind nicht allzu spät.“
    Charlotte blickte auf die Uhr. „Egal, alles unter einer halben Stunde muss man hinnehmen, sogar meine Mutter.“
    „Was hältst du von der Idee, wenn ich hierbleibe und uns dafür ein schönes Abendessen mache?“
    „Du willst mich also bestechen?“, Charlotte lachte. „Mich alleine zu meinen Eltern schicken?“
    „Na, immerhin hast du 20 Jahre bei ihnen gewohnt, da kommt es auf die paar Stunden mehr oder weniger auch nicht an.“
    „Du bist richtig kreativ, wenn es darum geht sich aus einer Sache herauszureden.“
    „Und?“
    „Tja, leider sind meine Eltern nun auch deine Eltern, schon vergessen? In guten, wie in schlechten Zeiten. Oder wer war denn der ältere Herr auf dieser großen Feier, den du von da an Papa nennen solltest?“
    „Dann hätte ich doch noch ein paar Becher mehr trinken sollen.“
    „Wem sagst du das! Heute wollte Mutter über die Geburtstagsfeier reden. Mir graut schon.“
    „Wirklich?“
    Charlotte nickte besorgt. „Ich habe eine bessere Idee: Du fährst alleine hin und sagst, ich wäre krank, und dafür koche ich was?“
    „Moment, Moment - ich alleine? Niemals! Bitte!“
    „Na gut, dann fahren wir eben zusammen, aber nur für dich, einverstanden?“
    „In Ordnung.“ Thomas war erleichtert. Als sie im Auto saßen bemerkte er etwas verwirrt: „Eigentlich wollte ich ja zuhause bleiben. Wie hast du das wieder geschafft?“ Was soll's, dachte er sich, Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?
Die Haustüre öffnete sich einen Spalt und jemand blickte hinter einer Kette hervor. „Ah, meine Liebe. Da bist du ja endlich“, drang es von innen heraus. „Und wie ich sehe, hast du ja auch deinen Mann mitgebracht.“
    Das klang fast wie ein Vorwurf. Wäre Charlotte nur alleine gefahren, dachte sich Thomas.
    „Und bitte zieht eure Schuhe aus! Und kommt doch endlich rein, und setzt euch schon mal an den Tisch. Der Kaffee ist schon ...“, Charlottes Mutter zögerte, „... lange fertig.“
    Milde lächelnd zwängte sich Thomas an seiner Frau und an Maria vorbei.
    „Setzt euch einfach. Vater wartet schon.“
    Thomas betrat das Wohnzimmer, wo sein Schwiegervater saß: „Hallo, Michael! Wie geht’s denn?“
    „Hallo, Thomas - ach, hallo, Charlotte, mein Schatz, gut siehst du aus! Setzt euch doch!“
    „Hallo, Vater! Entschuldige die Verspätung. Es ging leider nicht früher.“
    „Aber nein, Charlotte, das macht doch nichts! Lasst euch nicht einschüchtern! Setzt euch doch erst einmal hin. Thomas, einen Cognac?“
    Ehe Thomas dankend ablehnen konnte, hatte er schon ein Glas in der Hand und musste sich auf das Ledersofa setzen. Michael stellte die Flasche mit Schwung auf den Designer-Glastisch und ließ sich in den Sessel fallen.
    „Ach, ihr könntet ruhig öfter kommen. Wisst ihr, seit ich in Rente bin, halte ich es hier kaum mehr aus.“ Michael lächelte schmerzlich. „Du kennst ja Mutter ...“
    Etwas betroffen blickten Thomas und Charlotte zu Boden. „Unternehmt doch öfter etwas. Wenn man nur den ganzen Tag rumsitzt, dann muss man sich ja gegenseitig auf die Nerven gehen!“, schlug Charlotte vor. Es war zu konstruktiv.
    „Was unternehmen?“ Verächtlich goss sich Michael in seinen Schwenker nach.
    Maria kam in den Raum. „Wollt ihr euch nicht an den großen Tisch setzten?“
    „Ach, Schatz, können wir nicht einfach am Sofatisch Kaffee trinken? Hier ist es viel gemütlicher.“
    „Wie du meinst. Aber trink nicht so viel. Es ist ja noch nicht einmal Fünf!“
    „Ja, ja“, murmelte er und nahm einen großen Schluck.
    Als Maria schließlich den Kaffee eingegossen und den Apfelkuchen ausgeteilt hatte, fing sie an: „Wie ihr wisst, steht der fünfundsechzigste Geburtstag eures Vaters an, ein sehr wichtiges gesellschaftliches Ereignis für uns, und wir hatten uns gedacht, ob wir nicht vielleicht das Seehaus mieten sollten. Das hat doch so ein schönes Ambiente und außerdem ist da der Service hervorragend. Vielleicht könnten wir das Ensemble, das bei Uschis Hochzeit gespielt hat, engagieren, man soll uns ja nicht nachsagen können, wir wären knausrig.“
    „Das klingt doch gut“, sagte Thomas in die Runde. „Das Seehaus ist dafür ausgezeichnet. Herrliche Atmosphäre. Der Biergarten ist auch sehr hübsch.“
    „Biergarten? Wer feiert denn in einem Biergarten? Tun wir so was, Michael?“
    Michael aß ein Stück Kuchen, setzte an, verkniff sich aber eine Antwort.
    „Dort gibt es ja diese nette Terrasse“, fuhr Charlotte zügig fort, bevor die Atmosphäre zu angespannt wurde. „vor dem Lokal zum Ufer hin. Das ist bestimmt sehr romantisch und dann die Musik.“
    „Dieses ewige Feiern! Ich glaube ich bin langsam zu alt für so was“, meinte Michael und sah bedrückt zum Fenster hinaus.
    „Ach was, du bist doch in den besten Jahren“, meinte Thomas.
    „Ja, also, das Seehaus - das ist es ja dann wohl. Dann müssen wir nur noch die Einladungen entwerfen. Sollen wir Bianca fragen oder sollen wir es einer Firma in Auftrag geben?“ Maria blickte fragend in die Runde.
    „Müssen wir das wirklich, Schatz? Können wir nicht etwas Einfaches machen, ein Picknick vielleicht?“ Michaels letzter Versuch. „Oder auf die Rennbahn, wie damals vor zwanzig …
    „Picknick? Rennbahn? Das kommt doch wohl nicht in Frage. Was sagen da die ganzen Leute? Wir dürfen auch niemanden vergessen, z.B. Ute, dann den Herrn Scholte vom Vorstand samt Gattin und natürlich deinen Bruder und die Kinder und Uschi und meine Freundinnen vom Frauenverein und natürlich deine Stammtisch-Freude und von der Frima, das müssen wir uns aber noch gut überlegen, wir können ja nicht alle einladen und ...“
    „Weißt du was, ich habe die Schnauze voll! Ich will nicht feiern!“, entgegnete Michael unvermittelt.
    „Wie bitte?“ Maria blickte entsetzt zu ihrem Gatten.
    „Ich will nicht feiern! Hast du verstanden?!“, wiederholte Michael gereizt, wobei eines seiner Augen leicht zuckte. „Ich habe keine Lust, meine gelackte Verwandtschaft oder irgendwelche Speichellecker von der selbst ernannten High Society zu sehen! Alleine bei dem Gedanken kommt mir das Kotzen!“
    Entsetzt blicke Maria zu ihrem Mann. „Ich bitte dich! Du bist ja betrunken! Was sollen da die anderen denken!“
    „Ich kann sie nicht mehr sehen! Ich halt das nicht aus! Vierzig Jahre! Vierzig Jahre musste ich das ertragen! Dieses aufgeblasene, schnöselige Lumpenpack. Die denken doch alle, sie sind etwas Besseres!“
    „Also, Michael, deine Wortwahl lässt etwas zu wünschen übrig!“
    Er blickte traurig zu Thomas. „Du hast vollkommen Recht! Wir gehen in den Biergarten! Der ist nämlich wirklich schön. Und wer zu spät kommt, kriegt eben keinen Platz mehr. Keine Musik, kein Service! Aus basta! Gesellschaftliches Ereignis, von wegen! Darauf kann ich nur scheißen!“
    Angespanntes Schweigen breitete sich in der Runde aus. Nur das Schlürfen von Michaels Cognacglas war zu hören.
    Plötzlich brach Maria in Tränen aus. „Wie kannst du mir das antun?! Nach all den Jahren?“
    „Ich!? Wieso tu ich dir was an? Das ist doch mein Geburtstag! Ich habe es satt, all diese verkrampften Feste - ach, Herr Doktor Sowieso, schön, Sie zu sehen, was macht die Gattin? Was, Sie sind immer noch nicht Vorstandsvorsitzender? - das hängt mir zum Halse raus! Ich will feiern! Schweinshaxen und Currywurst essen und nicht irgendwelche Teilchen, die so klingen wie neu entdeckte Geschlechtskrankheiten!“
    Maria schluchzte daraufhin noch lauter und warf sich in Charlottes Arme. „Sag du doch etwas!“
    Thomas wurde es zu viel. „Na, ihr habt aber Probleme!“ Außerdem brannte der Cognac im Hals.
    „Ach, ich beneide dich, Thomas. Du hast einen echten Job, und wenn es dir nicht mehr passt, dann suchst du dir einen neuen.“ Michael machte eine Pause. „Und ich? Mein Vater hat mich in die Firma gesteckt - Achtung, das ist der junge Chef, Grüß Gott Herr Juniorchef, und dann schwirren sie wie Engelchen um einen herum und versuchen einem den Hintern abzuwischen! Wie geht es Ihnen heute, ich hoffe, alles ist zu Ihrer Zufriedenheit - vierzig Jahre lang! Vierzig Jahre dieses ganze Theater, dieses Speichellecken, und immer dieses - was sollen da denn die anderen denken! - Mir reicht’s, was kümmern mich die anderen!“
    „Aber ich dachte immer, dir gefällt es in der Firma!“, weinte Maria.
    Nach einer kurzen Pause meinte Michael mit Grabesstimme: „Die Firma ist nicht die Welt, war sie noch nie ... Ach, es ist schon spät! - Ich gehe jetzt ins Bett - zum Sterben. Dann hat sich das Problem von alleine gelöst. Guten Abend!“ Darauf wankte er wortlos an den anderen vorbei und verschwand hinter einer Türe.
    Es kostete Charlotte eine weitere Stunde, ihre Mutter zu beruhigen. Sie schlug vor, dass man sich in ein paar Tagen noch einmal darüber unterhalten sollte, wenn sich die Wogen etwas geglättet hätten. „Außerdem kann etwas Unkonventionelles manchmal viel interessanter sein. Versucht doch überhaupt einmal etwas Spontanes zu unternehmen! Das tut euch beiden bestimmt gut!“
    „Ach, wenn ich euch nicht hätte!“, meinte Maria und umarmte die beiden, als sie aus der Wohnung gingen.
    „Immer diese Theater“, seufzte Charlotte, kaum dass sich die Türe hinter ihnen geschlossen hatte. „Ich hoffe, sie kriegen sich wieder ein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was hat die denn gegen den Biergarten, Mann, o, Mann! Die hat vielleicht Vorstellungen. Dabei hat Vater absolut Recht, das wäre bestimmt ganz lustig. Aber, typisch Mutter, wenn mal einer nicht nach ihrer Pfeife tanzt ...“
    „Das wird schon wieder“, tröstete sie Thomas. „Wobei ich wirklich nicht verstehe, wie man mich um meinen Job beneiden kann.“
    Sie lachten und gingen Hand in Hand die Treppe hinunter.


Carlotte und Thomas erreichten die Haustüre, vor der einige Personen standen und miteinander redeten. „Geht ihr hinauf zum Fest, ich bleibe hier...“
    „Entschuldigung, dürfen wir kurz vorbei?“, unterbrach Thomas den Langhaarigen, der offenbar noch nicht so entschlossen war auf die Feier zu gehen, wie die beiden.
    Der Angesprochene trat freundlich zur Seite und hielt ihnen die Türe auf. Als sie im Treppenhaus waren, fuhr er fort: „Ich glaube, die suchen nach mir ...“
    Verwirrt schaute Thomas zu seiner Frau: „Kennst du den? Was für ein Problem hat der denn?“
    „Keine Ahnung, ich glaube, ich habe ihn schon irgendwo mal gesehen ... vielleicht will seine Freundin wo anders ... ist doch egal“, meinte sie und klingelte an der Wohnungstüre.
    Als sie geöffnet wurde, schlugen ihnen Musik und Rauch entgegen. Alle Zimmer waren überfüllt, aber irgendwie war es nicht wirklich laut, dafür legte sich sofort eine feuchte Wärme um Thomas’ Mantel.
    „Ah, hallo, bist du Justus?“, fragte er den Türöffner, woraufhin Charlotte ihm einen Stoß in die Rippen gab.
    „Nein, ich bin der Franz. Justus ist in der Küche.“
    „Das hätte ich dir auch sagen können“, murmelte Charlotte in Thomas Ohr.
    „Woher soll ich das wissen? Ich kenne Justus doch gar nicht!“
    Sie drängten sich durch die herumstehenden Pflanzen und Menschen und begaben sich in einen anderen Raum, der wohl die Küche war.
    „Ah, hallo, Justus“, begann Charlotte und winkte einem großen, hageren Mann, der unter einer geschmückten Laube stand durch die Balkontüre zu. „Alles Gute zum Geburtstag!“
    Nun hatte sich Thomas ebenfalls durchgezwängt und blickte zu ihm auf. Er war deutlich größer als er, mehr als seinen zugeknöpften Hemdkragen und ein paar Palmzweigen, die von der Seite hereinragten, bekam er zunächst nicht zu sehen.
    „Das hier ist mein Mann, Thomas!“, rief Charlotte.
    „Sehr erfreut, ich bin Justus!“
    „Hallo!“, entgegnete Thomas und sah nun sein Kinn. „Alles Gute auch von mir - wir haben auch eine Kleinigkeit mitgenommen.“ Und er zwängte seinen Arm mit einer Flasche Wein an den dicht gedrängten Gästen vorbei in das Gesichtsfeld der beiden. Wahrscheinlich würde sich gleich eine der nebenstehenden Frauen umdrehen und ihn einer sexuellen Belästigung bezichtigen, doch leider trat nichts dergleichen ein.
    „Ah, sehr gut“, antwortete Justus. „Hier ist gerade der Rotwein ausgegangen“, fuhr er fort und reichte das Präsent mühelos über die Köpfe hinweg zu einem anderen. „Hier kommt Nachschub!“, rief er noch, als ihm die Flasche schon aus der Hand gerissen wurde.
    Thomas ärgerte sich, er hätte doch den billigen Wein mitnehmen sollen. Wahrscheinlich stürzten sich nun die umstehenden Partygäste auf den edlen Tropfen wie ein Wolfsrudel auf frisches Pferdefleisch.
    „Ist ein bisschen voll geworden - aber Bier ist noch genug da, in der Badewanne!“
    „Danke, wir schauen uns einfach mal um. Bis später“, rief Charlotte nach oben und drängte sich aus der Küche hinaus. Thomas folgte ihr.
    Als sie sich endlich ein Bier ergattert hatten, suchten sie sich einen ruhigeren Platz. Ein kleiner Raum neben dem Schlafzimmer war bis jetzt nur mäßig mit Leuten gefüllt. Dort saß ein Pärchen, mit zerzausten Haaren, wahrscheinlich hatte man es vor langer Zeit beim Schmusen gestört, dann war da noch ein betrunkener, älterer Herr, der leise vor sich hin summte, einige schick gekleidete Menschen, die sich über Börsentransaktionen unterhielten und schließlich Birgit. Sie war die Freundin des Geburtstagskindes und Arbeitskollegin von Charlotte. Thomas wollte schon wieder gehen, aber seine Frau zog ihn beharrlich hinter sich her.
    „Ah, Birgit, toll, dass du auch da bist!“, begrüßte sie ihre Kollegin überschwänglich und stellte Thomas irgendwo ab. Vielleicht sollte er es genauso machen wie der Alte; sich volllaufen lassen und in einer Ecke Selbstgespräche führen. Er blickte den Mann an. Wo der wohl herkam? War er ein Nachbar, den man aus Höflichkeit eingeladen hatte? Er schien von nichts Notiz zu nehmen. Was für ein Ende, dachte Thomas, einsam in der Ecke neben einem Zitronenbäumchen mit einer Flasche Bier auf einer Party von Leuten, die er nicht kannte. Er setzte sich neben ihn. Es war schon so weit. Er dachte an sein Konzert am Freitag und lehnte sich zurück. Die Johannespassion - sie war ein tolles Werk, seine Lieblingspassion, und das zehrte an den Kräften des Ensembles. Sie galt im Allgemeinen zwar nicht als besonders schwer, aber für einen Chor wie seinen schon. Leise summte er vor sich hin.
    „Ah, die Johannespassion.“
    Thomas blickte erstaunt zu dem Alten. Er konnte sprechen. „Ja, das ist richtig.“
    „Ich bin Karl. Mir gehört die Wohnung.“
    „Ah, ja? Ich bin Thomas. Ich dachte, Justus wohnt hier?“
    „Ich bin Justus’ Vater.“ Er machte eine kleine Pause. „Woher kennen Sie Justus, Sie sehen gar nicht so aus wie seine anderen Juppie-Freunde?“
    Ob das ein Kompliment war? „Ich bin nur der Mann der Freundin von Justus Freundin. Sie sind Arbeitskollegen.“
    Karl war sprachlos. „Und da kommen Sie hierher?“ Er blickte sich verächtlich um. „Sind doch alles Langweiler. Singen Sie doch lieber Ihre Passion.“ Der Alte machte eine kurze Pause und summte etwas lauter, wobei er seine Hand bewegte, als würde er dirigieren. „Golgatha ... das ist mein Lieblingsstück. Himmel reiße, Welt erbebe ... diese bewegten Streicher, das aufgebrachte Bass-Solo und dann dieser fast sphärische Sopran dazwischen ... Jesu deine Passion ist mir lauter Freude ... und dann später: meine Seel auf Rosen geht.“ Er blickte verzückt in ein Nichts über Thomas Schulter.
    „Kommen Sie doch in unser Konzert, es ist am nächsten Freitag, dem Karfreitag.“ Thomas gab ihm einen kleinen Flyer.
    Karl blickte auf das Papier und wurde wieder ernst. „Meine Frau ist an einem Karfreitag gestorben.“
    „Das tut mir leid.“ Wahrscheinlich würde er ihn nun seine gesamte Lebensgeschichte stecken.
    Aber er seufzte nur: „Seitdem bin ich so frei.“ Nun begann er wieder zu summen: „Meine Seel auf Rosen geht, wenn ich dran gedenke; in dem Himmel eine Stätt mir deswegen schenke.“
    Danach verfiel er wieder in sein seliges Schweigen und starrte an Thomas vorbei. Ihm blieb nichts anders übrig, als seinen Blick auf seine Bierflasche zu senken und zu warten. Als er mittlerweile die dritte Flasche geleert hatte, befasste sich Charlotte endlich wieder mit ihm. Sie war völlig aufgedreht, das konnte er schon an ihrem Blick erkennen, und packte ihm am Ärmel: „Komm, wir müssen gehen, Birgit ist noch auf eine andere Party eingeladen, von einem Bernhard, und ich habe gesagt, dass wir mitkommen, das ist doch o.k., und schau nicht so, sonst bist du doch immer gleich zur Stelle, wenn man irgendwo etwas umsonst zu trinken bekommen kann, und außerdem ist hier sowieso nichts mehr los, Justus ist schon lange ins Bett gegangen, glaub ich, der muss morgen wieder früh raus, du kennst ja die Banker, aber Birgit hat noch Lust auf Feiern.“
    Thomas blickte sich um, sogar der Alte war verschwunden, vielleicht war er ins Himmelreich entrückt worden und das Ende der Welt brach an. Nur noch das Pärchen vom Anfang war übrig und wieder unzertrennlich. „O.K., ich komme“, entgegnete er, stand auf und reichte seinen Becher beim Hinausgehen weiter.

Bernhard hatte eine kleine Wohnung. Sie war mit Menschen gefüllt, die auf Polstern und alten Stühlen saßen. Besonders auffällig waren die zahlreichen uralten Videokassetten und die DVDs, die von ihren Regalen in das Wohnzimmer blickten. Ein Teil davon war von einem dicken, schwarzen Stoff bedeckt, der das Licht von der Dunkelheit trennte und hinter dem sich wahrscheinlich die Pornos befanden. Alle nickten freundlich, als die kleine Gruppe eintrat und sich umständlich einen Platz suchte. Als sich Thomas setzte, drückte ihn etwas in der Manteltasche. Er griff hinein und holte ein kleines Schild hervor, auf dem „Außer Betrieb“ stand. Birgit hatte es - ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit - vom Aufzug in Justus’ Haus abgehängt. Sie hatte es eigentlich nur verstecken wollen, aber dank Thomas’ und Charlottes Anstachelung dann doch eingesteckt. Nach einigen Minuten hatte sie ihr Gewissen allerdings so schwer geplagt, dass sie ihre Beute ihm überließ. Was wollte er damit? Vielleicht sollte er sich es am späteren Abend um den Hals hängen, wenn er nicht mehr aufstehen konnte.
    Birgit ging hinüber zu einem Mann, der etwa Ende Dreißig war und nur noch schütteres Haar besaß. Dann deutete sie auf Thomas und Charlotte, wonach die beiden in ihre Richtung gingen und vor ihnen stehen blieben.
    „Hallo, ich bin der Bernhard“, stellte er sich vor und lächelte dabei.
    „Hallo, freut mich, ich bin Thomas.“
    „Und ich Charlotte“, ergänzte sie strahlend.
    „Schön, dass ihr da seid. Holt euch doch einfach etwas zu trinken, das steht alles da drüben. Später schauen wir uns noch einen Film an.“
    „Das klingt ja spannend“, meinte Charlotte und stand auf. Thomas folgte ihr in die Küche. Außer Wein und Bier waren diverse hochprozentige Getränke neben dem Kühlschrank aufgestellt.
    „Will sich hier jemand lebend konservieren?“, fragte Thomas, als er auf die Flaschen blickte.
    „Jetzt, sei doch nicht so. Ich mix mir jedenfalls einen Caipi. Und was willst du?“
    „Ein Bier, bitte.“ Thomas hatte in letzter Zeit schlechte Erfahrung mit Cocktails gemacht. Er wurde dann immer so ernst und begann die Leute zu beleidigen. Er nahm die Flasche entgegen und setzte sich in eine Ecke. Auf Partys fiel es ihm meist schwer, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Am Ende landete er doch immer bei seinen alten Freunden. Er setzte sich neben seine Frau und ließ seine Gedanken schweifen.
    Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet ... Ein Chorus der Passion. Diesen mochte er besonders, weil der Bass so kräftig war. Chromatische Linien nach oben, relativ hoch und vor allem laut, das gab dem Stück etwas Aggressives. Das mochte er.
    Thomas dachte kurz an den Nachmittag mit Wolfgang. Sie hatten vor Jahren den Plan gehabt, eine Kneipe in der Innenstadt zu eröffnen. Die Idee schien anfangs gut durchdacht, doch leider scheiterte es an einigen Dingen, nicht nur am Namen, sondern auch an der Finanzierung. Schließlich wurde es nichts mit der Selbstständigkeit und jeder hatte sich eine Stelle gesucht. Wolfgang war bei einem online-Magazin als Redakteur gelandet und Thomas hatte zweifelsohne das schlechtere Los gezogen: er war für die Werbeanzeigen einer großen Supermarktkette verantwortlich. Seine Arbeit bestand darin, Texte für die verschiedensten Produkte zu verfassen. Das Anstrengende daran war allerdings, dass sein Chef ein tiefgläubiger Verfechter von Supermärkten war und jedes seiner Worte auf die Goldwaage legte. Er stand schon kurz vor der Pensionierung und wollte seinen Abgang mit dem Pulitzer-Preis krönen. „Das muss sich lesen wie ein Roman, verstehen Sie, wie ein Roman!“, sagte er immer, und dann lehnte er sich meistens zurück und philosophierte über die Supermärkte an sich und wie er damit begonnen hatte, das Konzept Supermarkt völlig umzukrempeln. Sogar einige Bücher hatte er darüber geschrieben - und sie im Supermarkt verkauft.
    Eigentlich hatte Thomas Musik studiert und ein Diplom gemacht. Er spielte Klarinette und Klavier. Aber nicht gut genug für ein dauerhaftes Engagement in einem Orchester. Er hatte sich schon einmal überlegt, ob er Lehrer werden sollte, aber aus den Erzählungen seines Bruders, der diesen Weg gegangen war, hatte er oft einen etwas negativen Unterton heraushören können. Und so hatte es sich ergeben, dass er einen relativ gut bezahlten Job in einer kleinen Firma ergattert hatte, obwohl es gar nichts mit seinem Studium zu tun hatte - seine Arbeit war einigermaßen stressfrei. Nur in letzter Zeit passierte es häufiger, dass er seinem Chef nach Feierabend zufällig über den Weg lief. Das war ihm zwar egal, aber er befürchtete, dass dieser leicht zu Verfolgungswahn neigte und nun glaubte, Thomas würde ihn beschatten. Er machte sich darüber keine Gedanken, zumal er eine Woche Urlaub genommen hatte und von seiner Arbeit nichts wissen wollte.